Pfarrer Eckhardt Sehmsdorf hat mit seiner Frau Renate in nunmehr 62 Ehejahren ein reiches Leben gelebt. Die Umbrüche der letzten Jahrzehnte haben Spuren in seinem Leben hinterlassen. Aber auch Eckhardt Sehmsdorf hat sein Umfeld geprägt. Jetzt führte der Lebensweg das Paar in Brauns Quartier.
„Laufen gelernt habe ich in Afrika“ verrät der Senior und erfreut sich sichtlich an der Verwunderung seines Gegenübers. Geboren während eines Heimaturlaubs in Ostpreußen, kehren die als Missionare im englischen Protektorat Tansania tätigen Eltern nach Afrika zurück. Mit Ausbruch des 2. Weltkrieges beginnt dann eine Odyssee, in deren Folge die Familie von Ort zu Ort zieht. Nach der Vertreibung durch die Engländer gelingt der Mutter – nur mit einer Handtasche ‚bewaffnet‘ – gemeinsam mit ihren sechs Kindern über Haifa und Venedig die Rückkehr nach Deutschland. In Berlin wird die Familie mehrfach ausgebombt und überlebt. Aber die Schrecken des Krieges sind allgegenwärtig und graben sich tief in die Kinderherzen. Auch Königsberg bleibt nur eine Zwischenstation. In einem leerstehenden Pfarrhaus nahe der Oder erlebt Eckhardt das Kriegsende. Als der Vater 1946 aus russischer Gefangenschaft nach Berlin zurückkehrt, ist die Familie wieder komplett.
Eine unbeschwerte Kindheit sieht anders aus. Es verwundert, mit welcher Selbstverständlichkeit, ja fast Leichtigkeit, der hagere Mann mit dem weißen Haar und dem gefurchten Gesicht von Krieg und Vertreibung berichtet. Hier weiß einer, dass das Leben keine Geschenke verteilt und steht doch gelassen und heiter über dem Zwang des Faktischen, den man auch Lauf der Dinge nennt.
Langsam wird es besser, aber nicht wirklich gut. Der Vater arbeitet als Pfarrer und Eckhardt studiert – Theologie. Das ist seine einzige Option, da ihm der Oberschulbesuch verwehrt wird. „Ja, ich habe einiges erlebt. Erst die Nazi-, dann die Stalinzeit und später die Diktatur des Proletariats. Kein Zuckerschlecken, besonders nicht für einen Pfarrer“ blickt Eckhardt Sehmsdorf zurück. Zunächst übernimmt er eine Pfarrstelle in Annaburg bei Wittenberg und kann erstmals mit seiner Frau, den eigenen vier Kindern und einem aufgenommenen Waisenkind das Leben genießen. „Unser Waisenkind wandelt auf den Spuren meiner Familie und ist heute Pfarrer in Südafrika“ berichtet er stolz.
Für ihn ging es 1978 weiter nach Quedlinburg an die Nikolaikirche. Hier gerät er mit der Stasi aneinander, die den aktiven Kirchenmann zunehmend ins Visier nimmt. Die ständigen Überwachungen, Bespitzelungen, Verleumdungen und Belästigungen machen ihm immer mehr zu schaffen – Körper und Geist brauchten eine Ruhepause. „1988 schied ich aus dem aktiven Kirchendienst aus – das war die schwerste Entscheidung meines Lebens“ bilanziert der Pfarrer. In den achtziger Jahren erwirbt die Familie ein Haus auf dem Münzberg, dass in diesen schweren Zeiten einen Rückzugsort mit Brockenblick und Sonnenaufgängen bietet.
Aber das aktive Leben lässt ihn nicht los. Eckhardt Sehmsdorf gehört zu den Mitbegründern des Neuen Forums in Quedlinburg. Als erster Sprecher redet er vor tausenden Demonstranten auf dem Marktplatz in Quedlinburg. Das war ein ungeheures Glück und eine große Genugtuung. Doch bald ist die Magie des Augenblicks, die Aufbruchstimmung vorbei. Als mehr und mehr die Machtfrage gestellt wurde, zog er sich aus dem aktiven politischen Tagesgeschäft zurück. Sehmsdorf gründet das Bürgerforum, das den ersten Nachwendebürgermeister in Quedlinburg stellte. Als ‚Wahlsieger‘ war er ein gefragter Mann, wurde von Ministerpräsident Albrecht empfangen und fand sich im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ wieder.
Aber die große Bühne ist nicht Sehmsdorfs authentisches Milieu. Es zieht ihn zurück zum unmittelbaren Dienst am Menschen. Eine Pfarrstelle an der Martinikirche in Stolberg bietet darüber hinaus die Möglichkeit, echte Aufbauarbeit zu leisten. „Die Kirche war baupolizeilich gesperrt, das Pfarrhaus in einem desolaten Zustand. Nur in Zeiten des Umbruchs kann man wirkliche Aufbauarbeit leisten“ ist sich der aktive Kirchenmann sicher. Mit Elan, Erfindungsgeist und dem ihm eigenen Improvisationstalent gehen er und seine Stolberger Mitstreiter die Herausforderungen an. Eckhardt Sehmsdorf zehrt von diesem Leben, aber es zehrt auch an ihm und fordert schließlich Tribut.
Mit dem Ruhestand kehrt die Familie wieder in das Haus auf dem Münzberg 38 zurück, genießt den Garten und Eckhardt Sehmsdorf kann am geliebten Stutzflügel ausgiebig seiner Leidenschaft für Musik frönen. Zugleich taucht er in die Kulturgeschichte des Münzberges ein, an dem sich die ältesten Mauern Quedlinburgs befinden. Aktiv beteiligte er sich an der Gründung des Museums „Klosterkirche St. Marien auf dem Münzberg“, erforscht das „Jänisch“, die Sprache des fahrenden Volkes, das sich im 17. Jahrhundert am Münzberg ansiedelte und ist mit Vorträgen und Ausstellungen über den prominentesten Vertreter des Quedlinburger Jänisch – Fritz Grasshoff – in der Kulturszene der Stadt aktiv. Ein Engagement als Laienrichter führte ihn regelmäßig nach Halle. Ein überaus aktiver Ruhestand, dessen Zentrum der Alterssitz auf dem Münzberg ist.
Aber der Münzberg heißt nicht umsonst „Berg“. Die täglichen Auf- und Abstiege werden zur Belastung. Auch das Haus ist mit diversen Treppen, die verwinkelte Anbauten auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verbinden, wenig altersgerecht. Als der 82-jährige seiner Frau spontan den Umzug in eine geeignetere Wohnung vorschlägt, stimmt die sofort zu. Jetzt geht alles sehr schnell. Freunde vermitteln den Kontakt zu Frau Wegener von der Wohnagentur ‚fachwerk‘ und bereits einen Tag später besichtigt das Ehepaar eine Wohnung in Brauns Quartier. „Das war schon ein Gegensatz zum Münzberg. Dort hatten wir Brockenblick und Sonnenaufgänge waren das Präludium unserer Tage. Auch die novemberdunkle Wohnung schien wenig einladend“ erinnert sich Sehmsdorf. Aber die Vormieterin war eine Rollstuhlfahrerin, alles war ebenerdig, behinderten- und damit sehr altersgerecht eingerichtet – das überzeugte. Als dann schließlich auch der geliebte Stutzflügel vom Münzberg an die Bode flog und die Nachbarn das Klavierspiel als Bereicherung und nicht als Belästigung empfanden, hatte die gemietete Wohnung in Brauns Quartier endgültig gewonnen.
„Die altersgerechte Wohnung mit ihrer zugleich ruhigen und zentrumsnahen Lage unterstützt uns dabei, auch im hohen Alter ein selbstbestimmtes, aktives Leben zu führen“ ist Eckhardt Sehmsdorf überzeugt. Dann setzt sich der Optimist ans Klavier und lockt mit einer Improvisation über „Komm, lieber Mai, und mache“ ein wenig Frühling ins Zimmer.
zurück