Sein gesamtes berufliches Leben verbrachte Wieland Liebusch dort, wo er jetzt forscht. Dabei musste er mit ansehen, wie der solide VEB Farbenchemie Quedlinburg, hervorgegangen aus der einst stolzen Anilinfarben-Fabrik Wilhelm Brauns, mit der Wende zunehmend in wirtschaftliches Abseits geriet und schließlich im Ruin endete. Heute hält er die Erinnerung an die 1874 gegründete stolze Firma als Chronist des auf dem einstigen Firmengelände entstehenden Wohnkomplexes BRAUNS QUARTIER wach.
Wieland Liebusch kennt sich hier aus. Mit sicherem Schritt steuert er über die belebte Baustelle durch alte, halbverfallene Fabrikbauten und neu entstandene Gebäude. Vorbei am einstigen Laborgebäude zum gestutzten Schornstein, der schon lange nicht mehr raucht. Am alten Labortrakt verharrt der freundlich plaudernde, ehemalige Laborleiter, dessen Berufstätigkeit hier 1967 begann und verstummt für einen Moment. Das ist sein Revier, das ist der Boden, auf dem er gemeinsam mit der Belegschaft die Technologie des Betriebsteils II weiterentwickelte und bestimmte. Hier fand er in über 30 Jahren nicht nur sicheren Halt, sondern durch anspruchsvolle Aufgaben auch die Basis für ein erfülltes Leben in der Bodestadt. Hier hat er seine Konflikte und Kämpfe als Arbeitsschutzbeauftragter und Giftverantwortlicher ausgefochten. Hier hat die Planwirtschaft der DDR viele gute Ideen der Belegschaft begraben. Hier hat er aber auch erlebt, was in der Gemeinschaft einer eingeschworenen Truppe möglich ist. Das hier ist sein Leben, jeder alte Stein spricht zu ihm in tausend Erinnerungen.
Wieland Liebusch ist einer der wenigen, der zur jüngeren Geschichte dieses Ortes authentisch Auskunft geben kann. Der sympathische ältere Herr mit den wissenden Augen und dem stets freundlichen Lächeln um den Mund setzt seine Worte mit Ruhe und Bedacht. Die hektische Betriebsamkeit der Baustelle perlt von ihm ab, während er aus seinem Leben berichtet.
Der am 2. November 1941 in Dresden geborene Wieland Liebusch studierte in seiner Geburtsstadt an der Technischen Universität Chemie. Ein sechswöchiges Praktikum führt ihn erstmals 1965 zur „Wilhelm Brauns KG mit staatlicher Beteiligung“ und bestimmte den weiteren beruflichen Werdegang. Dem damaligen staatlichen Betriebsleiter Horst Schmidt gelingt es, insgesamt sechs Absolventen aus den Bereichen Wissenschaft und Technik in die Fachwerkstadt am Harz zu holen. So zieht auch der junge Absolvent Liebusch 1967 gemeinsam mit seiner Familie in eine eigens ausgebaute Dachwohnung. Viel Überzeugungsarbeit für den Umzug aus einer Großstadt war nicht zu leisten. Er steht im Stoff, da seine Praktikumsarbeit im Studium bis zum Patent reifte. Das betriebliche Klima ist günstig, die Betriebsgröße so gestaltet, dass der Verwaltungsapparat überschaubar bleibt und jeder aus der Führungsriege Einblick in alle Prozesse hat. Das gefällt dem ambitionierten Berufseinsteiger.
Neben seinem Chemiestudium absolvierte der junge Liebusch eine ingenieurpädagogische Ausbildung und wird fortan die meisten Praktikanten und Facharbeiter in ihrer Ausbildung betreuen. Angenehmer Nebeneffekt: Er bleibt stets auf dem neuesten Stand von Forschung und Entwicklung.
Eingestellt als Laborleiter widmet er sich auch dem Neuerer- und Patentwesen. Letzteres vertieft er mit einem Fernstudium in Leipzig/Berlin. Über die Beschäftigung mit den 1945 mangels Devisen erloschenen Patenten der Firma Brauns findet er unbewusst einen ersten Zugang zur Geschichte der Firma. Bald verantwortet er den technologischen Prozess der Herstellung dunkelblauer Farbstoffe (Nigrosine) in Werk II, gehört zur Betriebsleitung, übernimmt zwei Jahre die komplette Produktionsleitung, um schließlich als Ökonomischer Direktor zu wirken. Fehlende Investitionen in die Bausubstanz führen 1988 zur Produktionsaufgabe in Werk II, erste Produktionsbereiche (Ostereierfarben) entfallen. Während die originalen Farbstoffe Brauns weiter gemischt und konfektioniert werden, wird die Produktionspalette zunehmend mit der Herstellung von Klebstoffen und der Konsumgüterproduktion erweitert.
Dann folgen mit der Wende weitere harte Einschnitte. Die Betriebsführung oblag nun befristet eingesetzten Geschäftsführern. Die Reprivatisierung verzögert sich immer wieder, da stets neue Auflagen zu erfüllen waren. So sind Investitionen nicht möglich. Die Farbsparte wird komplett aufgegeben bzw. Brauns-Heitmann in Warburg überlassen. Es werden nur noch Klebstoffe hergestellt. Der Betrieb fährt praktisch auf Verschleiß. Der Markt ist längst aufgeteilt. Da Baumärkte und Möbelfabriken ein Komplettsortiment von Schmelz- und Spezialklebstoffen aus einer Hand verlangen, kommen angebahnte Kooperationen nicht zum Tragen. Die Belegschaft ist ab 1991 auf 30 Beschäftigte geschrumpft.
Dabei bleibt es nicht. Jede Gelegenheit zur weiteren Personalverringerung wird genutzt, und zum 31. März 1999 geht der gekündigte Wieland Liebusch nach über dreißig Jahren letztmalig durch das Betriebstor. Es ist kein Abschied in Frieden, nicht einen Arbeitsbericht oder Prospekt darf er mitnehmen. Der verdienstvolle Chemiker, zuletzt als Außendienstmitarbeiter tätig, will an die Brauns‘sche Farbenfabrik nun keinen Gedanken mehr verschwenden. Die Wende hat viele Lebensläufe gebogen und Lebensleistungen infrage gestellt. Wieland Liebusch steht dafür exemplarisch.
Man sagt, das Vergessen sei ein bequemes Ruhekissen. Diese ‚Wohltat‘ ist ihm nicht vergönnt. Was über 30 Jahre Lebensinhalt war, lässt sich nicht rational kontrollieren. Zudem wohnt er ganz in der Nähe seiner alten Wirkungsstätte. Bis zum endgültigen wirtschaftlichen Aus der Firma vergehen noch fünf Jahre, 2004 schließen sich für die restlichen 12 Beschäftigten zum letzten Mal die Betriebstore. Das Firmengelände und die Immobilien verwildern, verfallen immer mehr. Plünderungen, 3 Brände und Vandalismus tun ein Übriges. Eine Industrieruine entsteht – in prominenter Stadtlage und vor den Augen von Wieland Liebusch.
Dann, im Jahr 2015, tut sich etwas auf dem Gelände. Sein Interesse ist geweckt, immer gebannter verfolgt er die Entwicklung auf dem gesamten Gelände von BRAUNS QUARTIER und hält es mit Fotos fest. Bei einem Tag des offenen Denkmals findet er Kontakt zur Wohnagentur Fachwerk, die BRAUNS QUARTIER mit initiierte und nun maklerseitig betreut. Dort erkennt man rasch, was für ein Schatz im Wissen und in den Erinnerungen des interessierten Rentners ruht. In den „Quedlinburger Annalen 2019“ veröffentlicht der Hobbyhistoriker einen Bericht vom Tag des offenen Denkmals und präsentiert zugleich eine erste Sammlung geschichtlicher Fakten. Wieland Liebusch hat Feuer gefangen – und seine alte Liebe bestimmt fast wie früher das Tagwerk.
Mit Freude registriert er, dass auch die Käufer und Mieter der neu entstandenen Eigentumswohnungen Interesse an der Geschichte des Standortes haben. So ist demnächst eine historische Abendstunde mit Bewohnern geplant. Aber erst, wenn im November die aktuelle, bilderreiche Publikation seiner Arbeitsergebnisse in den „Quedlinburger Annalen 2021“ veröffentlich ist. Hier hat er auf 17 Seiten sein Wissen zur Geschichte der Brauns’schen Farbenfabrik und zu BRAUNS QUARTIER zusammengefasst und übersichtlich dargestellt.
Auch für die Zukunft ist dem rührigen Rentner nicht bang. Immer wieder tauchen im Internet neue Unterlagen auf. So wartet jetzt ein Konvolut mit Briefen des Firmengründers Wilhelm Brauns aus den Jahren 1886–1903 auf die Erschließung, hinzu kommen Inventarbücher der ersten Firmenjahre in Quedlinburg von 1878 bis 1882. Vorhanden ist auch ein Jubiläums-Prospekt (25-jähriges Firmenjubiläum) aus dem Jahr 1899, in dem alle damaligen Produkte vorgestellt sind.
Jetzt, zwischen den alten und neuen Mauern ist Wieland Liebusch mit sich im Reinen. Die Freude über den Baufortschritt auf dem wiederbelebten Gelände drängt die Wehmut über den Niedergang seiner alten Firma zunehmend in den Hintergrund.
Und mit BRAUNS QUARTIER geht die Geschichte ja weiter.