Die Hallenser Gudrun und Jürgen Wolf waren schon immer an Geschichte und Geschichten interessiert. Von einer faszinierenden Harzer Jugendstilvilla führte sie eine Spurensuche nach Quedlinburg. Gefunden haben sie dabei nicht nur die Fabrikantenfamilie Arndt, sondern auch zahlreiche Dokumente zu Wilhelm Brauns Anilinfarben-Fabrik, die ein völlig neues Licht auf den einstigen Apotheker werfen. Und ganz nebenbei fanden sie in Brauns Quartier ein neues Zuhause.
13 Meter Flur – das sind eine Menge Meter Wand – lang, ungewöhnlich, gewöhnungsbedürftig. "Einst hätte dieser Flur fast dazu geführt, die Eigentumswohnung in Brauns Quartier nicht zu kaufen. Heute könnten es noch ein paar Meter mehr sein" erläutert Gudrun Wolf verschmitzt lächelnd. Und tatsächlich erweist sich der Flur als Visitenkarte der vielseitig interessierten und sehr agilen, umtriebigen Familie Wolf. Da verzeichnet eine Weltkarte Reisestationen aller Kontinente, eine Übersichtskarte der Harzer Wandernadel offene und bereits erwanderte Stempelstellen oder eine meterlange Quedlinburger Skyline markante und interessante Bauwerke. "Unser Wolfsrevier reicht weit – in die Welt, die Region und natürlich in die Stadt" erklärt Jürgen Wolf lachend und verweist zugleich auf die zahlreichen Fotos, die den Flur zu einer Bildergalerie, zu einem Dokumentationszentrum ihrer Aktivitäten machen.
Der Flur führt über Wohnzimmer, Küche und Balkon direkt an das baumbestandene Bodeufer. Im luftigen Schatten, eingebettet in das sanfte Wasser- und Blätterrauschen, stellt sich im vielstimmigen Vogelgezwitscher rasch ein Gefühl von Natur, Geborgenheit und Freiheit ein. "Aber wir sind mitten in der Stadt, in einer pulsierenden Kleinstadtmetropole, voll von Geschichte, Kunst, Kultur und einer kompletten Infrastruktur, in der alles fußläufig erreichbar ist", begeistert sich der Hausherr. Dabei lag Quedlinburg lange Zeit nicht im Fokus der Wolfs, gelegentliche Durchreisen in Vorwendezeiten schreckten eher ab.
Aber immer ist der Zufall der sicherste Wegweiser. Die Forschung zur Geschichte einer Harzer Jugendstilvilla führte auf den Spuren der Fabrikantenfamilie Arndt, die diese Villa erbaute, nach Quedlinburg. Als sich dann noch zeigte, dass Arndt hier eine 1870 gegründete, bedeutende Metallverarbeitungsfirma für Haushaltswaren betrieb, war es um Jürgen Wolf, den einstigen Techniker für Metallverarbeitung, geschehen. Da die Arndt‘sche Fabrik und Wilhelm Brauns Anilinfarben-Fabrik fast benachbart lagen, führten die Recherchen fast zwangsläufig auch zur Baustelle von Brauns Quartier. "Zwei erste Hausfundamente und ein paar Meter Mauer inmitten eines alten, heruntergekommen Fabrikgeländes, da brauchte es schon Fantasie und Optimismus, die heutige Wohnanlage zu erahnen“, berichtet Jürgen Wolf und fährt fort: "Aber unser Interesse war geweckt.“ Die Stadt rückte immer mehr ins Zentrum Wolf‘schen Interesses. Und Cathérine Wegener von der Wohnagentur ‚fachwerk‘ konnte nicht nur Zweifel beseitigen, sondern wachsende Neugier und Begeisterung für das Wohnquartier, die Stadt und das Nordharzer Umland wecken. Auf die Wohnungsreservierung folgte bald der Kauf und der Einzug im Mai 2019.
"Wir wohnten nun auf einem alten Fabrikgelände. Da lag es nahe, auch dessen Geschichte zu beleuchten. Zumal Berührungspunkte der benachbarten Firmen zu erwarten waren und wir mit der Gründerzeitgeschichte Quedlinburgs schon einigermaßen vertraut waren“, erläutert die einstige Bahnangestellte Gudrun Wolf. Bereits eine erste, schlichte Internetrecherche brachte überraschende Ergebnisse. Auf eBay fand Jürgen Wolf ein Bücherkonvolut mit Bezügen zur Geschichte der Anilinfarben-Fabrik. Das war ein Volltreffer: Ein vollständiges, handgeschriebenes Inventarbuch aus den Fabrikanfängen, ein Geschäftsbuch mit detailliert verzeichneten Gewinn-/Verlustrechnungen gehörten ebenso dazu wie prächtig leuchtende Farbmuster-Tafeln, eine Jubiläumspreisliste und diverses Prospektmaterial. Aber als besonders interessant und ergiebig erwies sich ein ‚Copirbuch‘, dessen Inhalt die komplette Korrespondenz des Fabrikgründers von 1906 beginnend bis kurz vor seinem Tod 1914 enthält.
Bereits die Kopiertechnik aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts faszinierte in ihrer Einfachheit. Die mit Sondertinte geschriebene Originalkorrespondenz wurde mit einem Pressvorgang auf angefeuchtetes, extrem dünnes Spezialpapier übertragen. Und diese Korrespondenz hatte es in sich. Hier trat das Tagesgeschäft der Farbenfabrik für den 65-jährigen, einstigen Apotheker Brauns in den Hintergrund. Waren Beteiligungen an Apotheken noch zu erwarten, gehen zahlreiche Firmenbeteiligungen, z.B. als Hauptgesellschafter einer für die Kriegsmarine bedeutenden Pumpenfabrik in Oschersleben, weit über normale Geschäftsbeziehungen einer Farbenfabrik hinaus und überraschen. Dazu kommen vielfältige Finanz-, Bank- und Immobiliengeschäfte. So zeigen sie Wilhelm Brauns etwa als Immobilieneigner eines ganzen Straßenzugs in Hamburg. Und immer wieder tritt die Familie, treten die Söhne und die Bemühungen des Seniors, sie als seine Nachfolger aufzubauen, in den Vordergrund.
Etwa 1000 handgeschriebene Seiten, in denen die Menschen und ihre Probleme in der Gründerzeit-Epoche plastisch hervortreten. Aber auch 1000 Seiten in einer heute fast unleserlichen, vergessenen Schrift. "Im Internet stieß ich bei der Universität Innsbruck auf das Programm ‚transcribus‘. Mit dieser, als Gemeinschaftsprojekt zahlreicher Universitäten entwickelten KI-gestützten, öffentlich zugänglichen Software, ist die Erfassung und Transkription historischer Handschriften prinzipiell möglich. Aber es ist ein langer Weg vom ersten Foto der Handschrift zu einem brauchbaren Text“, verrät Jürgen Wolf.
Einige Funde und Forschungsergebnisse haben die Wolfs mittlerweile im Eigenverlag "DER WOLF" publiziert. Etwa die prächtig ausgestattete Jubiläumspreisliste, die als Reprint vorliegt. Auch ein Band, der die wichtigsten und interessanten Briefe des „Copirbuchs“ und weitere Dokumente zur Firmen- und Familiengeschichte enthält, ist mittlerweile verfügbar.
Brauns und Arndt sind zwei überaus faszinierende Persönlichkeiten der jüngeren Quedlinburger Geschichte, die die Gründerjahre bis zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägten. Es gibt Berührungspunkte und es scheint sicher, dass sich die Familien nicht nur kannten und respektierten. „Fast tragisch ist da die Synchronität der Ereignisse“, verrät Gudrun Wolf nachdenklich. Denn dem rasanten Aufstieg der Firmen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts folgte jeweils eine Phase großer wirtschaftliches Prosperität. Doch die als Nachfolger vorgesehenen Söhne verfolgten andere Interessen und fielen schließlich im 1. Weltkrieg. Inflation und Wirtschaftskrise sorgten für wirtschaftlichen Niedergang der Firmen und der 2. Weltkrieg besorgte den Rest. Die einst stolzen Namen Quedlinburger Gründerzeit verloren sich im Dunkel der Geschichte.
Nicht nur das Bild Wilhelms Brauns hat sich durch die Forschungen des Ehepaares Wolf vom biederen Apotheker zum deutschland- und europaweit tätigen Unternehmer gewandelt. „Auch wir haben uns geändert. Die Freundlichkeit und Offenheit der Menschen aus der Region, ihr Geschichtsbewusstsein koppeln zurück. Auch wir gehen jetzt selbstverständlicher und freimütiger durch die Stadt, knüpfen leichter Kontakte zu Gleichgesinnten und entdecken so fast täglich neue, anregende Facetten der Gegend. Den Revierwechsel von Halle nach Quedlinburg im reiferen Alter haben wir nicht bereut.“, verrät Gudrun Wolf.
Und da ist noch viel zu entdecken. „Das Kapitel Wilhelm Brauns haben wir erst einmal abgeschlossen, auch wenn wir für weitere Zufallsfunde offen sind. Neben unseren vielfältigen Sammelleidenschaften und der Fotografie rückt unser neues Projekt, die Erarbeitung einer Stadtwanderung mit Bezügen zu ehemaligen Quedlinburger Stadttoren, in den Mittelpunkt.“ Die beiden „Wölfe“ lachen voller Vorfreude auf die Recherche. Da sind wohl einige Quedlinburger Straßenmeter erforschend zu durchlaufen. Und man ahnt, für die Präsentation der Recherche-Ergebnisse könnten es tatsächlich ein paar Flurmeter mehr sein.